Was soll das werden?
Rasko Heller | 07.07.2025
Liebe Hiergebliebene,
nach der zugegeben etwas qualvollen Lektüre eures Mahnbriefs an die linke Szene dieser Stadt in der letztjährigen Augustausgabe von Sub KMS, habe ich mich entschieden, die ganze Sache – so weit ich kann – einer grundlegenden Kritik zu unterziehen, um das chronische Verhängnis, in das sie sich einreiht, vielleicht hier und da zu unterbrechen.
Generell ist mir an eurem Text ins Auge gestochen, wie sich in ihm ein großspuriger, paternalistischer Gestus vermeintlich revolutionsvorbereitender Sozialarbeit und inhaltliche Armut die Klinke in die Hand geben. Das Ausmaß, in welchem der ganze Aufruf von administrativem Blick und kulturindustriell beschädigtem Bewusstsein zeugt, ist zwar nicht eben überraschend, aber deshalb nicht weniger schwer zu ertragen. Arbeit am Gegenstand, wirkliche Ergründung von Problemen, ist bei euch offensichtlich schon weitgehend durch selbstsuggestive Propaganda ersetzt. Die ganze Aktion hat letztlich eher etwas von ebenso pflichtschuldigem wie einfallslosem Dienst an ›der Bewegung‹ statt genuinem Interesse daran, irgendetwas Konkretes zu klären. Und sie erweckt den Eindruck, dass ihr euch beim Schreiben aus taktischen Gründen an so einigen Stellen dümmer gestellt habt, als ihr in Wahrheit seid. Ihr beklagt, dass »die deutsche Linke, und insbesondere die Chemnitzer Linke« »seit Jahrzehnten […] in denselben Mustern gefangen«[1] ist, bringt dann aber nichts anderes zustande, als diese Muster in besonders witzloser Art und Weise zu wiederholen, und fallt dabei noch hinter das zurück, was man hier durchaus einmal im positiven Sinn als naiven Blick auf die Gegebenheiten bezeichnen kann.
Die Kollage vermeintlicher Selbstverständlichkeiten, die ihr mit eurem Text abgeliefert habt, ist im Grunde durchweg ein Appell an ein projiziertes Kollektivsubjekt »Linke«, dem man wieder zu mehr gesellschaftlicher Relevanz verhelfen will, um besser gegen »den Faschismus« kämpfen zu können, dessen gesellschaftliche Etablierung eurem Befinden nach scheinbar unmittelbar bevorsteht. Man möchte fast ergänzen: Wie einst. Dass im Übrigen, wie ihr dann an anderer Stelle schreibt, die heutige Situation »nicht mit dem Nationalsozialismus vergleichbar« sei, ist Unsinn. Ohnehin dient euch diese Bemerkung lediglich als Freifahrtschein, um dann aus dem eben doch gezogenen Vergleich schale Banalitäten abzuleiten, für die es seiner nicht bedurft hätte. Sehr geboten wäre der Vergleich des Nationalsozialismus und noch mehr seiner Vorgeschichte mit der aktuellen Lage allerdings, um sich tatsächlich einmal Ähnlichkeiten und Unterschiede, Kontinuitäten und Brüche bewusst zu machen. Das wäre der eigenen Urteilsfähigkeit in Sachen »Aufstieg des Faschismus in Deutschland« mit Sicherheit ebenso zuträglich, wie die Befassung damit, was eigentlich Faschismus ist. Hilfreich wäre es dabei zudem, sich beiden Phänomenen als Produktionsverhältnis und Krisenlösungsmodell zu nähern, statt sie letztlich rein politisch – in der billigsten Ausführung als bloße Varianten von Diktatur – zu verschubladen. Ergiebige Lektüre für ein solches Unternehmen bieten unter anderem Zeev Sternhells Studie Faschistische Ideologie und der von Franz L. Neumann unter dem Titel Behemoth vorgelegte Klassiker antideutscher Feindaufklärung.
Ihr redet stattdessen darüber, was die Linke angesichts der von euch in ein fragwürdiges Schema übersetzen gesellschaftlichen Verhältnisse hier und jetzt tun oder lassen müsse, um noch eine Chance gegen den eigentlichen »politische[n] Feind in diesem Land« zu haben.
Eine neue Streitkultur
Zum einen wird da eine neue Streitkultur angemahnt, in der man aufeinander zugeht und – vorzugsweise in persönlichen Gesprächen – offen, hart in der Sache, aber ebenso respektvoll und konstruktiv politisch diskutiert, sich dabei auf Gemeinsamkeiten fokussiert und es unterlässt, sich mit Belanglosigkeiten aufzuhalten. Das Herziehen übereinander soll dem Reden miteinander weichen. »Fehlerfreundlichkeit« und Offenheit für Kritik an den eigenen Strukturen sollen gepflegt werden, damit weniger Menschen ausgegrenzt werden und die von euch konstatierte szeneinterne Spaltung und Konkurrenz überwunden werden kann. Auf dieser Grundlage schließlich soll sich »eine neue Debatte über die Chemnitzer Linken und [ihre] Strategien entwickel[n].«
Das mag sich zunächst plausibel und vernünftig anhören. Erstens aber ist es naiv, zu glauben, ein solches Konstrukt würde einer wirklichen politischen Debatte – auch allein unter Linken – standhalten und zweitens ist ein derartiges Szenario ohnehin nicht in allen Teilen erstrebenswert. Im Grunde wird damit nur ein Wunschbild linken Einvernehmens aufgetischt, das das schlichte Gegenteil der von euch geschilderten Situation ist, ohne sich mit deren Gründen zu befassen.
Ihr moniert unter anderem, dass es aufgrund der Zustände in der Chemnitzer Linken »für politische Akteure« oft besser sei, »sich nicht zu kennen«. Ob damit, dass sich alle kennen und direkt miteinander sprechen, sonderlich viel gewonnen wäre, ist allerdings fraglich. Sachdiskussionen jedenfalls setzen weder voraus, dass man sich kennt – was immer das konkret heißen mag –, noch haben sie es nötig, von Angesicht zu Angesicht geführt werden. Ein gewisser Abstand zueinander – sowohl räumlich und zeitlich als auch dadurch, dass einem das Gegenüber gerade nicht näher bekannt ist – hat, zumal bei kontroversen Debatten um soziale und politische Fragen, auch seine Vorzüge. In einer solchen Konstellation kann man im Zweifel offener diskutieren als mit Bekannten, denen einerseits unter Umständen noch diese oder jene Möglichkeit einfällt, einen für unliebsame Kritik bezahlen zu lassen oder auf die man andererseits um der Freundschaft willen oder aus anderen Gründen mehr Rücksicht nimmt, als in der Sache geboten wäre. Je weniger eine Debatte droht, sich unmittelbar zum eigenen Nachteil auszuwirken, je weniger man den Zugriff derer, die man irgendwann notwendig vor den Kopf stößt, auf den eigenen Alltag und das eigene Privatleben fürchten muss, desto offener kann man sprechen.
Was in einer Debatte auf Distanz zudem begrüßenswerterweise erheblich weniger gut funktioniert als face to face, ist, dass sich auf Schlagfertigkeit getrimmte Diskursprofis mit manipulativer Rhetorik und taktischen Tatsachenverdrehungen in ihr durchsetzen und damit alles ruinieren, weil sie der Erkenntnis der Sache und damit letztlich vernünftiger Praxis den Weg abschneiden. Es bleibt stattdessen Zeit, Aussagen und Fakten zu prüfen, Argumente zu durchdenken, sie vielleicht mit Menschen, denen man vertraut, zu besprechen. Die Wahrheitsfindung nimmt an all dem sicher keinen Schaden.
Apropos Vertrauen: Sich vielleicht sogar regelmäßig zusammensetzen und Dinge miteinander kontrovers diskutieren, gar »persönliche Netzwerke« pflegen, das setzt nicht nur ein Maß an Vertrauen voraus, das man kaum als Vorschuss gewähren wird, wenn man noch halbwegs bei Trost ist, sondern muss letztlich auch etwas mit Sympathie zu tun haben. Wo sich alle kennen, wo alle zusammenhängen, aber das ganze Miteinander auf politisch motivierter Pflichtschuldigkeit beruht, stellen sich schließlich Verhältnisse ein, die für die Befreiung aus dieser Gesellschaft nichts versprechen und in denen man stattdessen in einer Mischung aus drückender Langeweile, routinierter Pseudoaktivität und intellektueller Verödung sein Dasein fristet, kurzum: nichts als Lebenszeitverschwendung betreibt. Deshalb schwingt in der von euch propagierten Idee von »persönlichen Netzwerken« und »unsere[n] sozialen Beziehungen« als »Grundstein jeder politischen Organisierung«, spätestens wenn man sie im Kontext eurer gesamten Verlautbarung betrachtet, auch nicht zu knapp Ineinssetzung des Privaten mit dem Politischen und politische Instrumentalisierung des Privaten mit.
Ein weiteres Element der von euch postulierten neuen Streitkultur ist der Anspruch, Kritik möge, wenn auch nur unter politischen Kooperationspartnern, »konstruktiv« sein. Kritisieren aber heißt ja eine Sache beleuchten, sie intellektuell durchdringen und auseinanderlegen, sie analysieren, begreifen und dann entsprechend beurteilen. Und wie das Urteil jeweils ausfällt, hängt doch sowohl davon ab, was Gegenstand der Kritik ist, als auch davon, wie man sich als Kritiker mit seinem Interesse zu diesem Gegenstand verhält. Das heißt: Ob etwas in Grund und Boden kritisiert wird oder ob eine Kritik nur auf Einzelheiten an ihrem Objekt zielt, die sie verändert sehen möchte, hat in der Sache liegende Gründe und entscheidet sich vernünftigerweise nicht daran, ob man es sich zum Programm gemacht hat, entweder radikal oder eben »konstruktiv« zu kritisieren.
Nun soll hier mit der Rede vom Interesse aber nicht unterstellt werden, dass allen Interessen und folglich allen Urteilen über eine Sache gleiche Geltung zukomme. Es gibt objektiv falsche Urteile ebenso wie eindeutig widervernünftige Interessen, wenn auch bisweilen Interessen und Urteile, die auf den ersten Blick unsinnig erscheinen, sich bei genauerer Betrachtung als keineswegs durchschlagend irrational erweisen mögen und andere sich letztlich nur im Sumpfgebiet des Sowohl-als-auch verorten lassen. Hinzu kommt, dass das Verhältnis von Subjekt und Objekt der Kritik keine Beziehung gleichbleibender Faktoren ist, in der der Gegenstand lediglich vom Kritiker erschlossen und nachher beurteilt wird. Der Gegenstand lässt sich ebenso wenig absolut – als unmittelbares, geschichtsloses An-sich – erkennen, wie Denken im strengen Sinne autonom ist. Seine Erkenntnis und das Interesse des erkennenden Subjekts bedingen einander. Sie bewegen sich zwangsweise in einem Vermittlungszusammenhang. Interesse formt Erkenntnis, Erkenntnis formt Interesse. Und beide sind nicht loszulösen von den gesellschaftlichen Gegebenheiten, unter denen der Erkenntnisprozess und mithin Kritik stattfindet.
Die Wahrheit über eine Sache, die die Kritik ausspricht, hat folglich einen Zeitkern in dem Sinn, dass sie historisch-gesellschaftlich bedingt ist. Es kann also vorkommen und kommt vor, dass etwas später nicht mehr wahr ist, was gleichwohl vormals der Wahrheit entsprochen hat. Dieser Mangel an Absolutheit des kritischen Urteils ist aber kein Ausweis von Beliebigkeit, sondern Ausdruck dessen, dass die Kritik mit ihrem Anspruch, Wahrheit zu erschließen, sich im umfassenden Sinn ans sich verändernde Material statt an dogmatische Glaubenssätze hält. Das heißt auch: Wie die Kritik eines bestimmten Sachverhalts sich in Gänze konkret gestaltet, zeigt sich erst, wenn sie vollständig ausgearbeitet ist. Wer das übergeht, indem er Interesse und Urteil kurzschließt oder Negativität tabuisiert, bringt Kritik um ihren Gehalt.
Das Ergebnis von Kritik besteht ja oft – und bei Gesellschaftskritik in diesen Verhältnissen fast immer – darin, Einwände gegen eine Sache oder ein Verhältnis zu formulieren, das heißt: eine Gegnerschaft zum Kritisierten zum Ausdruck zu bringen. Kritik auf Konstruktivität verpflichten, bedeutet dann, darauf zu beharren, dass diese Gegnerschaft – die negative Stellung zum Objekt, die man mit seinen Einwänden einnimmt – immerzu in ein Positives, in wohlwollende Verbesserungsvorschläge, ja fürsorgliche Beförderung der Sache mündet, die man kritisiert, oder sich überhaupt nur noch in dieser Form äußert. Wer Kritik darauf festlegt, lässt sie mithin nur mehr gelten, wenn sie ›aufbauenden Charakter‹ hat und kein bloßes Unterbrechungs- und Zersetzungswerk ist. Was aber, wenn man eine Entwicklung als unsinnig und gefährlich erkannt hat oder ein Zustand sich als unhaltbar erweist? Dann hat es weder die eine noch der andere verdient, mit Verbesserungsvorschlägen bedacht zu werden, sondern es wäre stattdessen dafür zu sorgen, dass diese Entwicklung unterbrochen, ihr Fortgang unterbunden und jener Zustand aufgelöst wird.
Es mag ja vorkommen, dass man beispielsweise das Anliegen einer sozialen Bewegung teilt und sich lediglich daran stößt, wie diese Bewegung agiert, also daran, wie sie ihren Zweck verwirklichen, ihrem Ziel näher kommen will. Da heißt dann der Befund: Die Mittel verstoßen gegen den Zweck. Der Schaden, den diese Leute anrichten, hat seine Ursache hier nicht in ihren Beweggründen, sondern in ihrer Organisationsstruktur, ihren Aktionsformen usw. Folglich sollen die sich ändern, um ihrem eigentlichen Zweck gerecht zu werden. Sie sind im Sinne des Zwecks der Bewegung, wenn man so will, verbesserungswürdig. Aber selbst Kritik auf Basis eines solchen grundlegenden Einverständnisses in der Sache ließe sich schwerlich mit dem Attribut ›konstruktiv‹ belegen. Schon da nämlich verhält man sich als Kritiker keineswegs konstruktiv zu dem, was man konkret kritisiert, sondern stellt es als etwas heraus, das aufhören soll. Selbst, wenn man dann angibt, wie es anders laufen könnte, wenn man Verbesserungsvorschläge bringt, sind die nicht Bestandteil der Kritik, sondern etwas dieser – keineswegs notwendig – Nachgelagertes. Die Kritik besteht in der vorher geleisteten Darlegung dessen, warum und inwiefern die Mittel gegen den Zweck verstoßen, ein Zustand unhaltbar ist, ein Verhältnis abgeschafft werden soll. Mithin kann Kritik überhaupt nicht konstruktiv sein. Vielmehr ist ihr Grad an Konstruktivität – also das Ausmaß, in dem sie dem Kritisierten noch Material liefert – Index ihrer Unsachlichkeit und Kapitulation vor einer irren Diskursordnung. Inwiefern von Fall zu Fall Vorschläge dazu geboten sind, wie ein durch Kritik als unhaltbar Erwiesenes konkret überwunden werden könnte, oder ob was zu tun oder zu lassen wäre nicht schon an der Kritik selbst ausreichend deutlich wird, darüber ließe sich diskutieren.
Festzuhalten aber bleibt, dass Kritik als Aufzeigen und Explikation widervernünftiger sozialer Verhältnisse, folglich Denunziation des Wahns und schließlich intellektuelle Destruktion der falschen Gesellschaft, ein eigenständiger Akt ist, der die Vorarbeit zu wirklich subversiver Praxis im Marxschen Sinn leistet. Alle emanzipatorische Bewegung, alle Utopie, die sich darum herumschleicht, landet entweder bei abstrakter Negation (Das Kind wird mit dem Bade ausgekippt.) oder konformistischer Rebellion (Reproduktion der Unfreiheit in gewandelter Form). Auch die irre Verpflichtung von Kritik auf Konstruktivität nötigt zu Verhaltensweisen, die solche Vorarbeit sabotieren. Wo man angehalten ist, sich gemeinsam dümmer zu machen, als man allein ist, beschädigt das vorab jede Sachdiskussion. Die Erkenntnis der Sache wird einem vorweg gesetzten Einvernehmen geopfert, woran sich bereits die Unsinnigkeit des ganzen Unternehmens zeigt.
Was ihr in Sachen gegenseitiger Umgang vorschlagt, ergibt – wenngleich eure Kritik an den aktuellen Zuständen teils zutreffen mag – letzten Endes die bloße Illusion einer Streitkultur, mit der man zu irgendetwas Vernünftigem kommt. Tatsächlich würde man damit ein Umfeld schaffen, in dem vorwiegend kollektive Selbstentmündigung, identitäre Borniertheit, Gesinnungsdruck und tendenziell vergiftete Beziehungen das Geschehen bestimmen, und sich damit allenfalls im schlechten Sinn vom Ist-Zustand abheben. Zu diesem Szenario passt dann ein bei euch schon jetzt vorfindlicher substanzloser, automatenhafter Jargon, in dem sich ein Denken ausdrückt, das zwischen theoretischem Idealismus, Politromantik, Pädagogisierung und Opportunismus oszilliert, und der in Form und Inhalt die intellektuelle Bankrotterklärung derer abgibt, die ihn sprechen. So scheinen die von euch zusammengetragenen Eckpunkte eines vermeintlich besseren Miteinanders denn auch vielmehr Leitlinien für eine Interaktionsform zu sein, von der ihr euch politischen Erfolg zu euren Konditionen versprecht.
Ein Kollektiv für die Revolution
Politischen Erfolg versprecht ihr euch interessanterweise auch und vor allem davon, die Linke immer noch wie selbstverständlich als potenziell revolutionäres Kollektivsubjekt sozialer Emanzipation anzurufen, obwohl ihr eingangs selbst konstatiert, dass dieses Milieu »seit Jahrzehnten […] in denselben Mustern gefangen« ist, die den »Zielen einer befreiten Gesellschaft und dem Kampf gegen den Faschismus im Weg stehen.« Die Linke angesichts dessen weiterhin als ideologische Klammer zu gebrauchen, sie weiterhin als erfolgversprechenden Adressaten von Gesellschaftskritik und Verbündeten in Sachen Einrichtung vernünftiger sozialer Verhältnisse zu unterstellen, gehört indessen längst selbst in den Kreis jener Muster, aus denen die wirkliche Kritik dieser Gesellschaft auszubrechen hätte.
Wenn nämlich die Bezeichnung ›links‹ oder ›die Linke‹ derart inklusiv ist, dass sie im Zweifel die materialistische Kritik des Antisemitismus genauso einschließt wie den Terror gegen Israel, und wenn sie sowohl dem geschichtsdeterministischen Taumel vom unvermeidlichen Sieg des Proletariats als auch dem hypersubjektivistisch-autoritären Aufklärungsverrat postmoderner Prägung ein Dach überm Kopf gewährt, dann ist sie als Begriff für emanzipatorische Bewegungen, die eine von Herrschaft und Ausbeutung befreite Gesellschaft anstreben, schlicht unbrauchbar. Die Selbstverortung als ›links‹ oder ›Teil der Linken‹ ist für eine durchschlagend vernünftige Kritik dieser Gesellschaft ohnehin überflüssig. Und nicht selten läuft sie auf ideologische Engführung des Erkannten durchs erkennende Subjekt hinaus, statt dem, was man wirklich am Objekt erkennt, den Vorrang zu geben. Statt also – um wahlweise ihre genuine Gehaltlosigkeit oder ihr Verfallsdatum unbekümmert – weiter mit den politischen Spielmarken ›links‹ und ›rechts‹ um sich zu werfen, sollte man besser versuchen, Dinge begrifflich einzuholen. Konkret könnte das beispielsweise heißen, wo es angebracht ist, von Faschisten zu sprechen, die sich dann selbst für links, rechts oder sonstwas halten können. Die Art allerdings, wie ihr in eurem Text von Faschisten und Faschismus sprecht, legt nahe, dass es sich dabei eher um eine Mischung aus Verlegenheitsbezeichnung und habitualisierter Feindmarkierung handelt, die in erster Linie agitatorische Zwecke erfüllt.
Wahrscheinlich aber begreift sich ohnehin nur ein zu vernachlässigender Bruchteil derjenigen, von denen ihr wollt, dass sie in dieser Stadt als ›die Linke‹ agieren und mit euch gemeinsam gegen »den Faschismus« kämpfen, allen Ernstes als Teil einer doch eigentlich irgendwie mit Transformationspotenzial behafteten sozialen Bewegung oder politischen Partei, der nur darauf wartet, aktiviert zu werden, um gerade jetzt und jetzt erst recht dabei zu helfen, diesmal wirklich die große Umwälzung anzuschieben. Statt aber einmal wirklich zu ergründen, warum solche Aufrufe hierzulande derzeit kaum fruchten und darüber vielleicht darauf zu kommen, was – auch unabhängig davon – an ihnen daneben ist, kleistert ihr das Problem mit einer Phraseologie zu, die zwar mit markigen Parolen gespickt ist, aber letztlich nichts vollbringt, als revolutionär angetrunken und orientierungslos hin und her zu schwanken zwischen der Suggestion, es sei so, und der Forderung, es möge so sein, wie ihr es euch wünscht.
Dass Menschen aus dem (vermeintlich) selben politischen Spektrum oder sozialen Milieu sich bisweilen aus guten oder wenigstens nachvollziehbaren und zu respektierenden Gründen nicht zusammen an einen Tisch setzen mögen, dass sie sich gegenseitig grundsätzlich misstrauen, ja vielleicht sogar hassen, und deshalb auf Abstand zueinander gehen, erscheint bei euch tendenziell bloß als zu beseitigender Störfaktor statt als Sachverhalt, mit dem man sich grundlegend auseinanderzusetzen hätte. Die Einzelnen, die in diesem Konflikten leben, kommen da nur mehr kollektiv, als potenzielle politische Manövriermasse im Kampf gegen »den Faschismus«, vor, die durch ein sozialpädagogisches Maßnahmenpaket einsatzbereit gemacht werden soll. Zu welchem Zweck bleibt – bis auf einige Standardformeln linker Selbstvergewisserungsprosa in Krisenzeiten – unklar.
Diese Art administrative politische Kollektivierung betreibt ihr übrigens nicht nur, wo ihr versucht, ein linkes Milieu zu adressieren, sondern auch dort, wo ihr eure Vorstellung von »Arbeit in und mit der Gesellschaft« präsentiert:
»Der erste Schritt betrifft dabei das Identifizieren der richtigen Themen: Was bewegt die Menschen in der Nachbarschaft wirklich? Anhand welcher Themen lassen sich die Leute organisieren? Welche Klassen der Bevölkerung wollen wir erreichen? Welche sind die Themen, die sich zuspitzen lassen und antikapitalistisches Potential haben?«
Hier regiert die Vision einer prospektiven linken Avantgarde, die sich ihrer Sache so sicher wähnt, dass sie es sich leisten kann, zur Welt, wie sie ist, nur mehr ein instrumentelles Verhältnis im Dienst antikapitalistischer Ressourcenbündelung zu pflegen. Einzig zu diesem Zweck scheint diese Avantgarde überhaupt noch danach zu fragen, von welchen Interessen Menschen in ihrer Umgebung geleitet werden. Sie will, so scheint es, die umliegende Gesellschaft vor allem auf antikapitalistisches Potenzial abklopfen, um dieses Potenzial als Treibstoff der Bewegung nutzbar zu machen, die sie anzuführen gedenkt. Jener Nachbarschaft, jenen Leuten, mit denen diese Avantgarde arbeiten will und denen sie sich als Diener mit Führungsanspruch präsentiert, fällt in diesem Szenario schließlich nur mehr die Rolle einer zu bewirtschaftenden Zielgruppe zu, die sich organisieren lassen, das heißt sich möglichst mit ihren Interessen für die Bewegung einspannen lassen soll.
Man mag einwenden, dieser Befund sei Haarspalterei, denn Gesellschaft verändern ginge nun einmal nicht ohne Organisation, Strategie und Taktik. Und ja, es braucht diese Dinge, wenn man den destruktiven Tendenzen dieser Gesellschaft wirklich etwas entgegensetzen will, denn inhaltlich tragfähige Kritik allein wird dafür nicht ausreichen. Aber diese Mittel müssen sich aus einer konkreten Kritik der Verhältnisse – die durch nichts ersetzt werden kann – ergeben, und sich anpassen, wenn sich diese Verhältnisse oder ihre Kritik verändern. Organisieren müsste man sich demnach vielmehr entlang konkreter Inhalte beziehungsweise Resultate jener Kritik, statt sich an den Notnägeln trüber Selbstverständnisse entlangzuhangeln – freilich in dem Bewusstsein, dass pragmatische Zusammenarbeit ihre Grenzen hat.
Euer Geschäftsmodell hingegen scheint sich darin zu erschöpfen, unter dem Banner ›die Linke‹ potenzielle Mitstreiter für einen »politischen Kampf« in ernster Zeit zu mobilisieren und euch dabei aufzuführen wie eine Mischung aus kommunistischer Kaderpartei, life coach und Bürge der lohnabhängigen Klasse und um Zusammenhalt und Selbstwirksamkeit seiner Klientel stets bemühter Sozialpädagoge. Zu Warum und Wofür dieses Kampfes habt ihr nicht viel mehr zu sagen, als dass er antifaschistisch, antikapitalistisch, gut organisiert, offensiv und befreiend sein soll. Wo man sich um »die konsequente und radikale Frage gegenüber den subjektiven und objektiven Gegebenheiten«[2] derart konsequent herumschleicht, bleiben eben am Ende nur läppische Appelle an das soziale Aggregat ›Linke‹, in denen sich billiges Gejammer und auftrumpfende Parolen gegenseitig über Wasser zu halten versuchen, und deren Grundkonsens heuchelnde Wir-Formeln allzu ersichtlich auf Vereinnahmung und das Abgreifen von human resources zielen. Was – außer Beiträgen zur Verschlimmerung des Ist-Zustands – soll man von jemandem erwarten, der so ein Programm vorlegt?
Würdet ihr euch wirklich um die konkrete Kritik zunächst einmal eurer eigenen Lebensumstände kümmern, würden im Übrigen in eurem Text auch ein paar Worte über jenen Polit-, Szene- und Projektzirkus fallen, in dem vorstaatliche und halbstaatliche Organisationen, die vielbeschworene Zivilgesellschaft und ›radikale‹ Linke einen Großteil ihrer Zeit auf Versuche verwenden, mit wackeligen Förderkulissen im Hintergrund die Kultur im Lande vor allem demokratischer und inklusiver zu gestalten, ohne sich um die Geschäftsgrundlage dieser Gesellschaft weiter zu kümmern. Vernünftige Praxis ist in dieser Konstellation tendenziell nur mehr Abfallprodukt oder Mitgeschleiftes. Vor allem ist da ein Wirkungsfeld überflüssiger Ideologen entstanden, und auf ihm ein (keineswegs widerspruchsfreies) Milieu der selbstverständlich Besseren, die bestrebt sind, ihr eigenes, oft selbstreferenzielles Treiben in einer Art antibürgerlicher politischer Lebensreform als gesellschaftliche Norm zu etablieren. Statt diesen Verhältnissen mit Kritik zu begegnen, spekuliert ihr allem Anschein nach darauf, dass sie sich für eure Anliegen als nützlich erweisen und agitiert gegen Konkurrenz und Spaltung.
Fünf vor Faschismus!
Eure ständige Rede vom Faschismus, seinem gegenwärtigen Aufstieg in Deutschland, von Handlungsfähigkeit unter einer möglicherweise bald faschistischen Regierung usw. läuft zielsicher auf den Schluss hinaus, dass es angesichts dessen, was heute in diesem Land geschieht, nur noch eines geben kann, nämlich zu handeln, das heißt, »mit voller Kraft« gegen den »politische[n] Feind« zu kämpfen, wenn man die große Katastrophe noch irgend verhindern will. Fragen danach, was tatsächlich der Fall ist, ob das eigene Erklärungsschema dem überhaupt angemessen ist und ob nicht eigentlich auch gestern schon Katastrophe war, stehen da wenig überraschend nicht hoch im Kurs. Ihr unterstellt stattdessen, dass sich unsere Gesellschaft kurz vor einem historischen Kipppunkt befindet. Das erzeugt dann zuverlässig einen Zugzwang, unter dem Zweifel und Kritik ins Abseits gedrängt werden. Sie stattdessen zuzulassen, würde aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht dazu führen, dass man nichts tut, sondern dazu, dass man angemessen handelt, jedenfalls weitaus angemessener, als auf Basis einer identitär beschränkten Geschichtsextrapolation, die dann aktivistisch ins Feld geführt wird.
Nicht nur scheint weiten Teilen des linken Milieus beim Lernen aus der Geschichte irgendwo zwischen 1927 und 1933 der Treibstoff ausgegangen zu sein. Die vielbeschworenen Lehren aus der Vergangenheit, die die Geschäftsgrundlage des zeitgenössischen Antifaschismus ›gegen rechts‹ bilden, beschränken sich oft auf ein paar sakramentale Formeln, durch deren verständigen Gebrauch man sich selbst das Prädikat geschichtsbewusst ausstellt, während man das historische Geschehen brutal vereinfachend als Schablone für die Beurteilung der aktuellen Lage hernimmt und dann im Modus der notorischen Selbstgewissheit, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, in einer Umwelt herumtrampelt, die die eigenen Gewissheiten andauernd dementiert. Außerstande, einer sich verändernden Realität noch mit Arbeit der Kritik zu begegnen, treibt man angesichts dieser Schieflage schließlich ab in plumpe Reduktion kognitiver Dissonanz. Wer Gesellschaftskritik und politisches Engagement als ganzheitliches identitätsstiftendes Workout betreibt, dem geht es aber ohnehin nicht darum, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, um in der Sache richtig zu liegen, sondern um die Bestätigung der eigenen Integrität, ums Rechtbehalten für sich selbst.
Zwar sind einerseits die aus dem linken Milieu vernehmbaren Warnungen davor, dass die gegenwärtige Ordnung in eine schlimmere abzurutschen droht, ebenso wie die Fragen danach, wie sich das verhindern ließe und man zu einer grundlegend vernünftig eingerichteten Gesellschaft ohne solches Bedrohungspotenzial kommen könnte, nicht bloß Dahingesagtes ohne realen Kern. Andererseits nährt sich diese ganze Art des Weltbezugs wesentlich von einer Art Fetischisierung antifaschistischen Widerstands und damit indirekt ebenjener Verhältnisse und Bedrohungslagen, gegen die man sich laut Selbstauskunft wendet. Dieser fetischistische Antifaschismus geht einher mit einer dreifachen Verdrängung, namentlich Verdrängung der Abgründe der eigenen Weltanschauung, Verdrängung dessen, was real der Fall ist, wo es nicht ins Bild passt, und schließlich Verdrängung des Umstands, dass man den aktuellen Verhältnissen so, wie sie tatsächlich sind, weder analytisch noch in den eigenen Organisations- und Aktionsformen beizukommen vermag. Die Fixierung auf ›Faschismus‹ als Feindkonstruktion taugt demgegenüber als verlässlicher Konsensgenerator, der obendrein noch ausreichend ideologische Spachtelmasse abwirft, um die Risse im eigenen politischen Unterbau bis auf Weiteres zu verdecken.
Ob linksradikale Antifa-Aktion oder zivilgesellschaftlicher Protest gegen rechts: Letztlich lebt die Bewegung nicht zu knapp vom Gruselfaktor dessen, was ihr diffus als Schlimmstes gilt, mithin von der Antizipation jenes Unheils, demgegenüber sie sich als Ausweg empfehlen möchte. Daraus zieht die unbeirrte Notstandsbereitschaft mancher ihrer Protagonisten, die sich bisweilen bereits als Interimssouverän von morgen imaginieren, ihre Legitimation. Ein gewisses Maß irgendwie als ›faschistisch‹ etikettierbarer Gefahr kommt diesem Antifaschismus daher gar nicht ungelegen, insofern er nämlich darin eine verlässliche Grundlage für sein weiteres Funktionieren findet. Mit anderen Worten: So kommt ihm sein Spielfeld nicht abhanden. In der Tat scheint Antifaschismus heute überwiegend ein kulturindustriell vermitteltes Spiel der Leidenschaften zu sein, bei dem das, was an tatsächlicher Zurückdrängung menschenfeindlicher Denk- und Handlungsweisen bewirkt wird, sich kaum mehr jenseits von weitgehend unerheblichen Kollateraleffekten bewegt. Materialistische Kritik unterschiedet sich von solcherlei Bewirtschaftung politischer Marktsegmente unter anderem dadurch, dass sie im Denken wie im Tun bewusst nach dem Fertigwerden mit ihrem Gegenstand strebt, und deshalb auch erkennt, wenn ihr der Gegenstand abhanden kommt. Sie ist nicht der Stoff, aus dem community erwächst, sondern ein Werkzeug zur Bekämpfung grundlegend irrationaler sozialer Verhältnisse.
Natürlich kann auch eine materialistische Kritik mit ihrer Einschätzung der Verhältnisse falsch liegen, etwa indem sie deren Dynamik unterschätzt. Immerzu ›Fünf vor Faschismus!‹ zu skandieren und dann auf Zusammenhalt und linke Gegenoffensive abzustellen, geht andererseits an dem, was erforderlich wäre, um den destruktiven Entwicklungen und Potenzialen dieser Gesellschaft wirkmächtig zu begegnen, klar vorbei. Wem angesichts der aktuellen Zustände nichts mehr einfällt, außer sich in Organisierung und politischen Kampf zu stürzen, der hat sich von diesen Zuständen bereits dumm machen lassen und weist sich allenfalls noch als gelehriger Azubi in Sachen Politinszenierung aus.
Man muss zwar nicht immer zwingend einen treffenden Begriff von etwas Falschem haben, um es richtig zu bekämpfen. Dann ist im Zweifel aber kein Begriff besser als ein als Begriff verkleideter Ideologiebaustein. Doch selbst der Umstand, dass Menschen mitunter abseits von Begriffen spontan das Richtige tun, entbindet nicht von der Frage, was man warum konkret bekämpft und wie man das am besten tun sollte. Und die führt unweigerlich wieder auf die nach Begriffen, die sich damit als radikal relevant für die eigenen Aktionsformen und ihre Begründungen erweisen. Das erbauliche Narrativ, ›die Linke‹ kämpfe hier und heute gegen AfD & Co. als ›den Faschismus‹, hat sich längst an der Realität blamiert. Daran ändert auch seine ungebrochene Prävalenz im linken Milieu nichts. Eher im Gegenteil scheint sich gerade darin die Blamage zu bestätigen.
In die Offensive kommen
Ähnlich blamabel wie das ständige Daherreden vom anstehenden oder bereits in Teilen etablierten Faschismus im heutigen Deutschland ist die damit eng verwobene, unter Linken seit Jahrzehnten gepflegte und mittlerweile regelrecht zum running gag verschliffene Frage, mit welcher Art kollektiver politischer Arbeit man angesichts der jeweils aktuellen Misere »wieder in die Offensive kommen« könnte. Im Grunde hat sich diese Frage als ebenso hilflos wie gebetsmühlenartig wiederholtes Mantra bereits gegen ihren eigentlichen Gehalt, Anstoß zum tatsächlichen Erörtern von Möglichkeiten eigenen politischen Agierens zu sein, gewendet und gibt mittlerweile vor allem die routinierte Realitätsverweigerung und den Reflexionsausfall derer zu Protokoll, die sie aufwerfen wie eh und je. In die Offensive kommen ist da kaum mehr als eine Chiffre dafür, Umstände zu schaffen, in denen man sich als – wie es heute heißt – selbstwirksam erfahren, das heißt, sich als Mensch erleben kann, der etwas bewegt und damit noch dazu in einer Geschichtslinie steht, die trotz einzugestehender herber Rückschläge und dunkler Passagen doch irgendwie als zumindest prospektive Erfolgstradition gehandelt werden kann. Man hat Großes hinter sich und als nachgerückter Bannerträger einer lichten Zukunft noch Größeres vor.
Bei eurer eigenen Offensive wollt ihr euch, wie ihr schreibt, an linken Bewegungen »in andere[n] europäische[n] Länder[n] mit rechten Regierungen« orientieren. Da bleibt nur zu hoffen, dass diejenigen, die ihr euch zum Vorbild nehmt, nicht jene ›antiimperialistischen‹, vom Selbstbestimmungsrecht der Völker besoffenen Antiuniversalisten, Volksbefreiungskrieger im Geiste, Israel- und Judenhasser in Frankreich, Griechenland, Italien und anderswo sind, die je nach Couleur auch der Ukraine den Hahn zudrehen wollen.
Wenn wenigstens statt der ständigen affektiven Feuerwehrpolitik wahlweise ›gegen rechts‹ oder ›den Faschismus‹ eine fähige Defensive gegen den disruptiven Irrationalismus nicht nur in diesem Land existieren würde, wäre schon viel gewonnen. Eine vernünftige Kritik dieser Gesellschaft, die sich konkret ihrem Objekt widmet, müsste allerdings gar keine Zeit darauf verschwenden, sich zu fragen, wie man wieder in die Offensive kommt. Statt sich in politstrategischer Phraseologie zu ergehen und auf revolutionärer Kampf zu machen, würde sie sich schlicht darum kümmern, Möglichkeiten sinnvoller Praxis aus den aktuellen Gegebenheiten zu erschließen.
Die ganze Großspurigkeit, der ganze Paternalismus eurer Argumentation ist doch vor allem eines: Pendant und Ausdruck uneingestandener Ohnmacht schon beim Erfassen der vorliegenden Probleme, die eben nicht lediglich ein Gefühl ist. Um aber mit der realen individuellen wie kollektiven Ohnmacht in dieser Gesellschaft vernünftig umgehen und sie tatsächlich überwinden zu können, müsste man sie zuerst einmal anerkennen, statt sich permanent mit »Hoffnung und Glaube« an einen »mit voller Kraft« geführten »politischen Kampf« zu berauschen, der möglich wäre, wenn das linke Milieu nur besser zusammenhielte und kollektiv in die Offensive ginge.
Immerzu unterm Vorbehalt eines ›Wenn wir nur…‹ reale Machtoptionen zur Veränderung der »Gesellschaft im Ganzen« ohne eigentlichen Inhalt zu suggerieren und damit zu werben, ist letztlich nichts als eine Aufforderung zu pseudo-revolutionärem Einheitsfront-Konformismus, der Möglichkeiten von Befreiung gerade da verbaut, wo er sie zu eröffnen vorgibt. Die ständigen Aufforderungen zum Zusammenrücken angesichts einer ernsten Lage werden absehbar vor allem das Zurückdrängen und letztliche Stillstellen eben jener inhaltlichen Klärungen durch sachlichen Streit bewirken, die vernünftige Praxis über bloß spontane Regungen hinaus erst ermöglichen. Mit anderen Worten: Anstrengungen, auf konkrete Gegebenheiten in einer angemessenen, rationalen Art und Weise zu reagieren, weil man das Problem hinreichend verstanden hat, wird so der Weg abgeschnitten. Am Ende dieser Entwicklung mag eine Organisation mit fest geschlossenen Reihen stehen, deren Insassen aber nichts begriffen und deshalb auch nichts anzubieten haben außer jenen Produkten willfähriger kollektiver Selbstverdummung, die sie als Propaganda verbreiten und die allein noch die Substanz ihrer Politik ausmachen: sozialarbeiterisch eingefärbtes Community-Gesülze, revolutionsduseliges Kokettieren und ›kommunistisches‹ Rumprotzen.
Im Grunde wird da, ob aus Hilflosigkeit oder Kalkül, stets ein Notstand konstatiert, der nicht gegeben ist, um sich dann so zu verhalten, als sei ebendieser Notstand die Realität, mit der man es zu tun hat. Dabei rennt man nicht nur am Begreifen der Sachlage vorbei, sondern forciert noch gesellschaftliche Entwicklungen, denen stattdessen Einhalt zu gebieten wäre: Autoritäre Formierung, haltlose Gewaltbereitschaft und Verschleifung des Denkens zum Mittel der verständigen Rationalisierung des Irrationalen. Den nach eigenem Ermessen bereits irgendwie eingetreten Ausnahmezustand verkauft man bei dieser Gelegenheit gleich noch als Möglichkeitsraum für unmittelbar revolutionäre Aktion. Deshalb ist er so willkommen. Man rechnet sich Machtoptionen in einem Zustand fortschreitender Desintegration aus, die man dafür auch selbst voranzutreiben bereit ist.
Das Revolutionäre an dieser ganzen Übung erschöpft sich folglich in dem Versuch, das soziale Gefüge unter seine Kontrolle zu bringen, um es dann zu kommandieren, ganz so, als sei soziale Revolution lediglich noch ein Problem der Verschiebung von Kräfteverhältnissen. Wie aber sollen sich dadurch Auswege aus einer Wirklichkeit eröffnen, von der man doch gerade nichts weiter wissen will als das, was einem dem eigenen Selbstverständlichkeitensammelsurium nach ohnehin irgendwie klar ist. Wie wollt ihr so jemals zu einem sinnvollen Begriff allgemein menschlicher Emanzipation kommen und diesem praktisch Geltung verschaffen, statt nur bewegungslinke Planspiele zu veranstalten und die eigene Schwäche durch ein ständiges Geblök von möglichen Machtoptionen zuzukleistern, die auf dem Tisch lägen, wenn man nur endlich in diese verdammte Offensive käme?
In eurer Beschwerde darüber, dass sich die Linke gar nicht mehr zutraue, »die Gesellschaft im Ganzen zu verändern«, klingt dann auch vielmehr als die Erinnerung daran, dass die sozialen Verhältnisse menschengemacht und daher grundlegend veränderbar sind, der selbstredend weltrevolutionäre Ehrgeiz an, das Unmögliche zu versuchen und in einer Art Flurbegradigung die vorherrschende Realität einfach zu überrollen. Wenn man wirklich ein Interesse an einer von Herrschaft und Ausbeutung befreiten Gesellschaft hat, hätte man sich ebendieser Realität in ihrer Komplexität so weit zu nähern, dass sich ihr Wesen in seinen zeitgenössischen Erscheinungsformen erblicken lässt. Nur so ließe sich wegkommen vom ewigen Lamento über den Zustand des linken Milieus, von dem man gleichzeitig als potenziell revolutionäres Subjekt nicht lassen kann, hin zu einer konkreten Kritik auf Höhe der Zeit.
Kult der politischen Jugend
Wer stattdessen Revolution organisieren will, um »die Gesellschaft im Ganzen« zu verändern, braucht natürlich vor allem Mitstreiter, am besten junge Leute voller Energie und Tatendrang. Denn, wie ihr sicherlich mit einiger Genugtuung Karl Liebknecht zitiert: »Die Jugend ist die reinste Flamme der Revolution«. Schon das Original von 1918, welches dieser Verfälschung zugrundeliegt, ist – wie der gesamte Aufsatz Liebknechts über Die proletarische Jugend in der Revolution – an quasi-religiösem Pathos kaum zu überbieten:
»Die revolutionäre Jugend des Proletariats, sie war die heißeste, reinste Flamme der bisherigen deutschen Revolution; sie wird die glühendste, heiligste, unlöschbare Flamme der neuen Revolution sein, die da kommen muß und wird: der sozialen Revolution des deutschen, des Weltproletariats.«[3]
Allerdings weist noch dieses agitatorische Geballer bei all seiner suggestiven Rhetorik einen konkreten historischen Bezug und eine halbwegs konkrete Vorstellung davon auf, was der Feuersturm der entflammten Jugend vollbringen soll. Es will eine zusammenfassende Beurteilung des Agierens einer proletarischen Jugendbewegung in Deutschland seit Anfang des 20. Jahrhunderts sein und benennt schließlich – wenn auch in Form eines wahrscheinlich aus Verzweiflung resultierenden wahnhaften Geschichtsdeterminismus – die soziale Revolution des Weltproletariats als Ziel.
Die Verfälschung, die der Kommunistische Aufbau, aus dessen Propagandamüll ihr den Satz allem Anschein nach abgefischt habt, als Liebknecht-Zitat verscherbelt, ist dagegen eine von solcherlei Störfaktoren gereinigte, bloß dogmatische Beschwörungsformel, die nichts mehr sein will als möglichst flexibel einsetzbares Propagandamittel, das sich im Übrigen auch vortrefflich als Parole in der Tat faschistischer Bewegungen eignen würde.
Der Kult der politischen Jugend, die glühende Affirmation ihrer Bestimmung als Ressource der politischen Aktion, gleichermaßen Stoßtrupp und Reserve von Bewegung und Partei, ist etwas, das mit im besten Sinne emanzipatorischen Bewegungen nicht zusammengeht. Er zielt auf Mobilisierung für den politischen Durchbruch statt Selbst- und Welterkenntnis und klammert sich dabei an die Vorstellung, dass jugendliches Unbehagen mit sich und der Welt und die dazu passende Empörung über die Verhältnisse an sich schon eine gesellschaftsverändernde Kraft seien, und mit entsprechender Führung womöglich die wirkmächtigste. Schließlich haben die jungen Leute ihr Leben zum Großteil noch vor sich und eine Zukunft zu gewinnen beziehungsweise zu verlieren. Sie sollen rausreißen, was man selbst auch deshalb verrissen hat, weil man bei aller scharfsinnigen Verständigkeit die eigene Rohheit im Denken wie im Handeln nie überwunden, ja sie im eigenen Sumpf noch kultiviert hat, und damit aller Kämpferpose zum Trotz den Verhältnissen gegenüber ohnmächtiger geblieben ist, als es hätte sein müssen.
Und so wird es auch der »politischen Jugend« ergehen, wenn sie ihre Kraft darauf verschwendet, die Oberhand in Verhältnissen zu gewinnen, an die selbst Hand anzulegen wäre, und sich dabei anschickt, zuvorderst all das zu beschädigen, was in diesen Verhältnissen noch als Moment von Freiheit gelten kann und gegen den Rückschritt wie den Fortschritt in schlimmere Zustände zu verteidigen wäre.
Zur Jugend zu gehören, und sei es die »politische Jugend«, ist keinerlei Gütesiegel für irgendetwas, zumal sich unter den Bedingungen dieser Gesellschaft im Jugendalter bei vielen Erfahrungsarmut und politischer Eifer zu einem explosiven Gemisch verbinden, das durch konkrete Kritik aufzulösen wäre, die bis zu einer gewissen Grenze auch wohlwollend formuliert werden kann. Insofern ist euren Forderungen zum »Umgang mit der politischen Jugend« grundlegend zu widersprechen.
Man sollte eben nicht pauschal »über jede junge Person dankbar sein, die sich in der aktuellen Zeit in Chemnitz engagiert«, sondern sein Urteil über das jeweilige Engagement davon abhängig machen, wie es konkret aussieht. Dabei kann es nicht nur sinnvoll, sondern notwendig sein, auch Ansprüche geltend zu machen, denen man früher selbst nicht gerecht geworden ist, statt anspruchslos »Vertrauen, Unterstützung und [...] Rückhalt« zu gewähren, solange es sich um Leute handelt, die sich als Linke verstehen und das etwa damit zu begründen wissen, dass sie etwas gegen Nazis, Rassisten, Sexisten und Nationalisten haben, es aber mitunter ebenso als Ausweis ihres Linksseins verstehen, Jungendclubtoiletten mit wirren antizionistischen Parolen einzudecken oder Diskussionen ausschließlich in einer aktivistischen Wahnsprache zu führen. Ob man früher selbst einem bestimmten Anspruch gerecht geworden ist oder nicht, sagt schlicht nichts darüber aus, ob man ihn heute an andere stellen sollte.
Zwar ließe sich nötigenfalls diskutieren, ob die Ansprüche, die man heute stellt, an der einen der anderen Stelle überzogen sind, in jedem Fall aber ist davon abzuraten, seine Ansprüche so weit zurechtzustutzen, dass man im Grunde einen Freifahrtschein für Jugendsünden erteilt und damit eine Trumpfkarte aushändigt, die gegen Kritik ausgespielt werden kann. Alle möglichen Verfehlungen als Ausdruck jugendlichen Leichtsinns, Überschwangs oder adoleszenten Selbstfindungsgerangels zu entschuldigen und damit Jugend in einem denkbar schlechten Sinn als soziales Moratorium zu behandeln, hieße, sich einer traurigen Realität gegenüber konformistisch zu verhalten, statt etwas zu tun, um sie zu verändern.
Genau das Gegenteil – Ansprüche stellen und Kritik üben an dem, was einem am Treiben der jungen Leute irrig erscheint, und ihnen damit andere Wege aufzeigen – wäre eine vernünftige Art und Weise, einige der Forderungen, die ihr stellt, zu erfüllen, nämlich: auf sie zuzugehen, sich mit ihnen über seine Erfahrungen auszutauschen und sie beim Versuch, sich zu orientieren, nicht allein zu lassen; und zwar ohne sie im Zuge dessen zur »politischen Jugend« zu modeln.
Nicht zu retten
Die Sahnehaube auf dem Wust, den ihr da im letzten Sommer rausgehauen habt, ist schließlich die Eröffnung eines mit »Niemand wird uns retten« überschriebenen Abschnitts, die sich in etwa in der Parole ›In Karl-Marx-Stadt nur wir!‹ zusammenfassen ließe. Darin serviert ihr eine Mischung aus Sendungsbewusstsein, selbstgewählter Alternativlosigkeit und DIY-Heldentum bei gleichzeitiger Nötigung zur Mitarbeit, die die erpresserische Larmoyanz, die bei euch permanent mitschwingt, auf die Spitze treibt:
»Niemand aus Leipzig oder Berlin wird uns helfen, unsere Probleme zu lösen. Nur wir gemeinsam können uns selbst helfen und die Probleme in unserer Stadt angehen.«
Wenn sich das für euch bewahrheiten sollte, wird es eure eigene Schuld sein. Ohnehin aber missversteht man diese Sätze, wenn man sie als Ausdruck von Wut und Trauer über ihren zweifelhaften Inhalt auffasst. Stattdessen liefern sie einen Befund, der die eigenen Machtinteressen bedient, indem er sie im Kostüm unumgänglicher Sachzwänge in den hiesigen Diskurs posaunt, mit dem Ziel, sie als Gemeinplätze zu etablieren. Die darin unterstellte Zurückgeworfenheit auf allein sich selbst mag auf den ersten Blick den von euch an anderer Stelle geäußerten Appellen, die »politische Jugend« nicht allein zu lassen und bei der »Arbeit in und mit der Gesellschaft« die Augen nach Verbündeten außerhalb der Szene offenzuhalten, widersprechen. Dass man demgegenüber aufs Ganze gesehen so tut, als könne man sich in Chemnitz ausschließlich selbst helfen, dient jedoch demselben Ziel wie die Apologie der »politischen Jugend« und die Fahndung nach Verbündeten im Rest der Gesellschaft: Die eigene politische Linie soll mehrheitsfähig gemacht werden. Wo man nach außen geht, will man missionieren, und ansonsten Kritik im Abseits halten oder dorthin abdrängen.
Das ganze pathetische Notstandsgebaren dient mithin primär dazu, unliebsamen Einfluss draußenzuhalten. Es soll bei der revolutionären Sozialarbeit niemand stören, der am Ende vielleicht noch ebenso stichhaltig wie unnachgiebig Kritik übt und damit ganz ohne sozialpädagogischen Schmierstoff dafür sorgt, dass Wissensstand und intellektuelles Niveau hier dermaßen eskalieren, dass ihr mit eurer miefigen Verbindung aus lokalpatriotisch aromatisierter Stadtteilarbeit und – zumindest der Duftmarke nach – um Militanz nicht verlegenem Antifa-Checkertum von Mal zu Mal weniger Erfolg habt und zunehmend unter Rechtfertigungsdruck geratet.
Wer immer sich in der von euch mitbesorgten Chemnitzer Tristesse verlassen vorkommt, könnte sich – statt sich hier ›trotz allem‹ mit und für euch zu engagieren – viel eher dadurch selbst helfen, dass er sich Unterhaltung, Anregung und Hilfe von anderswo holt, ja vielleicht sogar dorthin umzieht. Es muss ja nicht für immer sein. Dass niemand kommt, um einen zu retten, legt eben schlicht nahe, dass man selbst erst einmal irgendwo hingehen muss – und sei es in die nächstgelegene Bibliothek, um dort in den Regalen nach Materialien der Aufklärung und Kritik zu stöbern.
Am Ende allerdings ist es, bei aller möglichen Hilfe von außen, tatsächlich an einem selbst, sich so weit wie möglich von abschaffenswerten Verhältnissen, in die man hineingeraten ist – also beispielsweise von der Zugehörigkeit zu einer politischen Sekte –, zu emanzipieren. Man muss letztlich selbst dazu kommen, das als notwendig zu erachten, muss es selbst wollen, eine konkrete Vorstellung davon entwickeln und es dann selbst tun. Die dabei gemachten Erfahrungen werden einen recht wahrscheinlich auch in die Lage versetzen, anderen in ähnlichen Situationen zu helfen.
Sollte das, was euch bewogen hat, jenes ebenso pampige wie verworrene Bekenntnis- und Appellpapier zu verfassen, das hier kritisiert wird, ein tatsächliches Interesse an der Zurückdrängung übler sozialer Umstände und letztlich an einer von Herrschaft und Ausbeutung befreiten Gesellschaft gewesen sein, ist davon im Ergebnis nahezu nichts mehr zu erkennen. Ihr legt eine Ausdrucksweise an den Tag, in der K-Gruppen-Duktus, zeitgenössischer Krisenverwaltungsjargon und linkes Aktivbürgergetrommel miteinander verwachsen sind, und die nichts artikuliert als intellektuelle Ohnmacht, gepaart mit Machtambition, Notstandseifer und heroischer Selbstinszenierung einer prospektiven revolutionären Bewegung, der ihr euch bereits jetzt angehörig wähnt.
Mit Eurem Pamphlet, in dem ihr ein Konglomerat an Gegebenheiten gesellschaftlicher und politischer Art unterstellt, statt eine Analyse aktueller Entwicklungen und Sachverhalte vorzunehmen, webt ihr das Elend der deutschen Linken, die ihr zu kritisieren meint, lediglich fort. Nicht nur werden ständig ans Hier und Jetzt Ansprüche formuliert, ohne sich über die Bedingungen ihrer Realisierbarkeit Rechenschaft abzulegen, sondern schon die Ansprüche selbst kranken daran, dass nirgendwo der Versuch unternommen wird, die Dinge als die Undinge und Zumutungen auch im Denken zu begreifen, die sie sind. Stattdessen wird sich – ebenso ahnungslos wie selbstgewiss – aus den ideologischen Arsenalen autoritär-›kommunistischen‹ Politsektentums und postmoderner Subjektivität bedient, um einen weiteren abgeschmackt militanten call to action an potenzielle Genossen zu fabrizieren. Am Ende steht begriffslose Propaganda, aus der zuvorderst die Weigerung gegen die gründliche Reflexion der Verhältnisse spricht.
Die ganze Sache ist in Form und Inhalt unter aller Kritik, drängt sich aber gerade deshalb als Gegenstand der Kritik auf. Denn dass kaum noch irgendwo substanzielle Kritik getrieben wird, ist einer der Hauptgründe dafür, dass die Mächte des Wahnsinns es so leicht dabei haben, sich diese Welt Untertan zu machen. Sie stoßen schlicht an den wenigsten Orten auf eine Gegenwehr, die sie auch nur ansatzweise in Bedrängnis bringt.
Wenn ihr so weitermacht, wird euch irgendwann tatsächlich nichts und niemand mehr vor Bornierung und damit intellektueller Frühvergreisung und chronischer Erfahrungsarmut sowie dem Hineinsteuern in den Müllstrudel politischen racketeerings bewahren können. Dann werdet ihr irgendwann weit jenseits vernünftiger Gesellschaftskritik auf einer kargen Insel aus nichts als giftigem Staub stranden und, im Denken wie im Handeln bankrott, an diesem Ort dahinsiechen, während die Sonne verdunkelnde Mövenschwärme unentwegt ›Die Hölle, das seid ihr selbst!‹ vom Himmel schreien.
Andererseits wird euch hoffentlich insofern niemand retten, dass ihr mit eurem irren Programm entweder auf fundamentales Desinteresse oder besser noch auf radikale Kritik trefft. Letztere hilft im Bestfall dabei, der eigenen Fetischisierung des politischen Daseins Risse beizubringen und die Erkenntnis zu befördern, dass es Aufgabe emanzipatorischer Praxis wäre, das Politische zum Verschwinden zu bringen. In einer befreiten Gesellschaft, so wie sie etwa Marx und Engels verstanden haben, wäre mit dem politischen Dasein jedenfalls – zum Glück – Schluss, denn:
»Sind im Laufe der Entwicklung die Klassenunterschiede verschwunden und ist alle Produktion in den Händen der assoziierten Individuen konzentriert, so verliert die öffentliche Gewalt den politischen Charakter.«[4]
[1] O. V.: Die Hiergebliebenen. In: Sub KMS Nr. 82, 08/2024, S. 1. Alle weiteren Zitate ohne Quellenangabe ebenda, S. 1–4. Eine nahezu identische Version des Textes ist online unter https://de.indymedia.org/node/490375 verfügbar. [zurück]
[2] Max Horkheimer: Materialismus und Metaphysik. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Band 3, S. 70. [zurück]
[3] Karl Liebknecht: Die proletarische Jugend in der Revolution. In: Ders.: Gesammelte Reden und Schriften, Band IX, S. 629. [zurück]
[4] Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. In: MEW, Band 4, S. 482. [zurück]